Grundsatzrede vor dem Europäischen Parlament – Prioritäten des österreichischen EU-Ratsvorsitzes präsentiert
Rede von Bundeskanzler Sebastian Kurz im Europäischen Parlament am 3. Juli 2018 im Wortlaut
Buongiorno Antonio,
Bonjour Jean-Claude,
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
es ist eine große Freude und Ehre für mich, heute die Möglichkeit zu haben, bei Ihnen im Europäischen Parlament sein zu dürfen, bei Ihnen als den gewählten Vertreterinnen und Vertretern der europäischen Bevölkerung auf europäischer Ebene. Wir sind am Samstag in Schladming hoch oben auf einem Gipfel in Österreich zusammengekommen, um von Bojko Borissow die Staffel, die Europäische Staffel, zu übernehmen. Es war ein feierlicher Akt, weil wir es in Österreich als einem proeuropäischen Land als große Ehre empfinden, den Ratsvorsitz in der Europäischen Union übernehmen zu dürfen. Es ist für uns aber nicht nur eine große Ehre, sondern es ist vor allem auch eine große Verantwortung und ich darf an dieser Stelle gleich einmal dem bulgarischen Ratsvorsitz für die Arbeit in den vergangenen sechs Monaten gratulieren. Eine Arbeit die aus unserer Sicht sehr professionell war. Wir werden uns bemühen, in gleichem Sinne auch die Arbeit für die Europäische Union fortzusetzen. Es ist eine große Verantwortung, die wir hier übernehmen dürfen, um einen Beitrag für die Zukunft der Europäischen Union zu leisten.
Ich gebe zu, als junger Mensch mit 31 Jahren ist die Europäische Union für mich so etwas wie Selbstverständlichkeit. Mir ist in den letzten Jahren aber mehr und mehr bewusst geworden, dass wir als Politiker die Europäische Union nicht für selbstverständlich nehmen dürfen, sondern tagtäglich hart daran arbeiten müssen, damit wir das Friedens- und Erfolgsprojekt der Europäischen Union weiterentwickeln und ständig zum Positiven verändern.
Wir dürfen als Republik Österreich den Ratsvorsitz in einer durchaus herausfordernden Zeit übernehmen, in einer Phase des Umbruchs. Wir erleben in den USA eine sich immer stärker verändernde politische Landschaft, die für uns in Europa immer unberechenbarer geworden ist. Wir erleben in China zwar einen enormen wirtschaftlichen Aufstieg, aber gleichzeitig ein Gesellschaftsmodell, das weit weg von unserem in Europa ist. Und mit unserem größten Nachbarn auf unserem Kontinent, mit Russland, haben wir nach wie vor andauernde Spannungen direkt in Europa.
Innerhalb der Europäischen Union sind die Spannungen in den letzten Jahren mehr und mehr geworden und es ist fast der Eindruck entstanden, dass hier Gräben entstanden sind, die es zu überwinden gilt. Mit dem Brexit erleben wir erstmals, dass nach Jahren, in denen ständig nur Staaten der Europäischen Union beitreten wollten, ein Land freiwillig die Europäische Union verlässt. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich durfte vier Jahre lang Außenminister der Republik Österreich sein und bei jeder Reise ins außereuropäische Ausland ist mir mehr und mehr bewusst geworden, wie dankbar wir sein dürfen, in Europa zu leben. Es ist mir mehr und mehr bewusst geworden, dass Vieles, was wir in Europa als selbstverständlich erachten, keine Selbstverständlichkeit ist. Es ist mir mehr und mehr bewusst geworden, dass Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, die Grundfreiheiten, die uns als normal erscheinen, anderswo in der Welt alles andere als Gott gegeben sind. Es ist also ein Geschenk, in Europa leben zu dürfen, es ist ein Geschenk, Europäer sein zu dürfen, auch in einer Zeit, die voller Herausforderungen ist.
Aber in den letzten Jahren, als ich als Außenminister viel unterwegs sein durfte, ist mir nicht nur bewusst geworden, dass diese Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, anderswo alles andere als Selbstverständlichkeit sind, sondern es ist mir auch mehr und mehr bewusst geworden, dass es unsere Aufgabe ist, dafür zu kämpfen, dass es auch in Europa so bleibt. Die Rechtsstaatlichkeit, die Demokratie, die Grundfreiheiten, das ist nicht nur das Fundament, für uns in Europa, es ist auch das Herz unseres Zusammenlebens. Und wir werden als Ratsvorsitz unseren Beitrag dazu leisten, dass diese Grundfreiheiten in Europa auch Selbstverständlichkeit bleiben.
Ich glaube, darüber hinaus ist es auch wichtig dafür zu kämpfen, dass Europa seine Wettbewerbsfähigkeit erhält. Denn der Wohlstand in Europa, die Gerechtigkeit, der „European Way of Life“, das Lebensmodell der Europäischen Union, das alles ist abhängig von unseren Grundrechten. Es ist sehr wohl aber auch abhängig von unserer Wettbewerbsfähigkeit und von unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Wir müssen uns daher in einer Zeit der Digitalisierung und Automatisierung auch dafür einsetzen, dass wir als europäische Union wettbewerbsfähig bleiben, dass wir nicht von anderen Regionen dieser Welt überholt werden, weil wir bürokratischer oder langsamer sind, sondern wir müssen alles tun, dass wir in dieser verändernden Zeit an der Weltspitze stehen. Genau deshalb wollen wir als Ratsvorsitz einen Fokus auf die großen Fragen legen.
Wir glauben fest im Sinne der Subsidiarität, dass es notwendig ist, auf große Fragen zu fokussieren und das wollen wir mit Ihnen gemeinsam, mit dem Europäischen Parlament, aber natürlich auch mit der Kommission, tun. Ich darf mich daher auch ganz herzlich, Herr Präsident, für den guten Besuch der Präsidenten des Europäischen Parlaments in Wien am 19. Juni bedanken. Es war ein erster guter Austausch in Vorbereitung auf unseren Ratsvorsitz, aber ich hoffe sehr, dass wir die gute Zusammenarbeit, die wir hier – glaube ich – einleiten konnten, auch während den sechs Monaten, genauso freundschaftlich und professionell fortsetzen können. Wir sind uns sicher nicht überall einer Meinung, aber ich habe bei dem Termin festgestellt, dass auch alle Fraktionen im Europäischen Parlament nicht immer einer Meinung sind. Aber vielleicht ist es genau das, was uns in Europa ein Stück weit ausmacht: Dass wir es uns leisten können, unterschiedlicher Meinung zu sein und gleichzeitig aber auch wissen müssen, dass wir darauf fokussieren müssen, wo wir einer Meinung sind, dass wir die Ziele fokussieren, wo wir Kompromisse erzielen können. Das ist genau das Ziel unseres Ratsvorsitzes.
Wir wollen Brückenbauer sein und auf Themen fokussieren, wo es gemeinsam möglich ist, unsere Europäische Union voranzubringen. Wir stellen den Ratsvorsitz unter das Motto „Ein Europa, das schützt“. Wir wollen auf Herausforderungen fokussieren, die in unserer Zeit gerade aktuell sind, wir wollen alles tun, um den Wohlstand in Europa zu sichern, und wir wollen das nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb unserer europäischen Grenzen tun. Ganz konkret wollen wir auf drei Prioritäten einen Schwerpunkt legen.
Zum Ersten: Sicherheit und Kampf gegen illegale Migration. Weil der Schutz der europäischen Bevölkerung oberste Priorität haben muss und weil wir einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik brauchen. Es braucht einen stärkeren Fokus auf den Außengrenzschutz, als Basis für ein Europa ohne Grenzen nach Innen. Ich bin in diesem Zusammenhang sehr froh, dass es letzte Woche beim Europäischen Rat gelungen ist, aus meiner Sicht eine Trendwende einzuleiten und einen wichtigen Fokus auf einen Außengrenzschutz, auf die Zusammenarbeit mit Drittstaaten zu legen. Das ist neben der Debatte über die Dublin-Reform und auch die Verteilung in Europa ganz, ganz wesentlich. Insbesondere die Diskussion auf deutscher Ebene, was nationale Maßnahmen zu Österreich betrifft, zeigt uns einmal mehr, dass es einen Fokus auf den Außengrenzschutz braucht, und dass ein Europa ohne Grenzen nach Innen langfristig nur bestehen kann, wenn es auch funktionierende Außengrenzen gibt.
Darüber hinaus, zum Zweiten, wollen wir einen Fokus auf die Absicherung unseres Wohlstandes legen. Die Digitalisierung und auch die Automatisierung verändern unsere Welt. Nur wenn es uns gelingt, auch hier Vorreiter zu sein und die Chancen, die sich hier ergeben, zu nutzen, werden wir weiter als Europäische Union an der Weltspitze stehen. Wir müssen alles tun, dass in Zukunft die großen Internetkonzerne nicht nur in den USA und in China entstehen, sondern auch in Europa möglich sind. Wir haben die besten Grundvoraussetzungen als Europäische Union: Rechtsstaatlichkeit, eine gute Infrastruktur, gut ausgebildete Menschen in unserer Europäischen Union und vor allem einen Binnenmarkt mit 500 Millionen Menschen. Aber wir müssen jetzt auch die richtigen Rahmenbedingungen schaffen, um „High Tech - Made in Europa“ auch in Zukunft sicherzustellen und vor allem auch, um Wettbewerbsgleichheit herzustellen. Ich unterstütze in diesem Zusammenhang die Idee der Europäischen Union nach einer Ausgleichssteuer für Internetgiganten, denn solch ein Schritt würde zu mehr Chancengleichheit und einem faireren Wettbewerb auch für europäische Unternehmen beitragen.
Und zum Dritten, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, neben dem Thema der Sicherheit und dem Kampf gegen illegale Migration, neben dem Thema der Absicherung unseres Wohlstands, ist es natürlich auch notwendig, dass wir als Europäische Union in unserer Nachbarschaft aktiv sind. Ein Europa das schützt endet nicht an der europäischen Außengrenze. Nur wenn es uns gelingt, Friede, Sicherheit und Stabilität auch in unserer Nachbarschaft sicherzustellen, werden wir Friede, Sicherheit und Stabilität langfristig auch in Europa gewährleisten können. Wir wollen hier einen Beitrag dazu leisten, dass sich das Verhältnis in unserer östlichen Nachbarschaft verbessert. Neben der Reaktion auf russische Aggressionen, neben – auch – Sanktionen auf Grund von völkerrechtswidrigem Verhalten, ist es notwendig, hier die Dialogkanäle wieder zu verstärken, denn Friede auf unserem Kontinent wird es langfristig nur mit und nicht gegen Russland geben können. Wir wollen darüber hinaus die Zusammenarbeit mit Afrika intensivieren, und ich bin dem Präsidenten des Europäischen Parlaments sehr dankbar, dass er hier auch Treiber ist. Nur wenn wir es schaffen, die Lebensbedingungen in Afrika zu verbessern, können wir sicherstellen, dass das Leid der Menschen dort geringer wird. Nur wenn wir in einem fairen Handel mit Afrika zusammenarbeiten und gleichzeitig aber auch europäische Investitionen dort unterstützen, können wir sicherstellen, dass es dort auch eine nachhaltige Entwicklung und Perspektiven für junge Menschen gibt. Und zum Dritten auch die Nachbarschaft die uns ganz besonders am Herzen liegt – als Republik Österreich – ist natürlich die Region Südost-Europa und insbesondere der Westbalkan. Das Projekt der Europäischen Union ist unserer Meinung nach erst vollendet, wenn auch die Westbalkan-Staaten Teil unseres geeinten Europas sind. Diese Staaten, sehr geehrte Damen und Herren, haben sich nicht nur eine europäische Perspektive verdient, sie haben sich vielmehr eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union verdient. Wir müssen diese Staaten auf ihrem Weg in die europäische Union bestmöglich unterstützen.
Ich bin in diesem Zusammenhang sehr froh, dass es möglich war, eine Einigung im Namensstreit zu erzielen. Wir sind froh, dass Mazedonien und Albanien jetzt auch Beitrittsverhandlungen eröffnen werden können, auch wenn wir uns das noch rascher gewünscht hätten. Aber was es braucht, ist eine ehrliche Perspektive für diese Staaten. Was es braucht, ist ein kontinuierlicher Fortschritt auf dem Weg in die Europäische Union. Nur wenn wir das sicherstellen, können wir sicherstellen, dass nicht andere Staaten dieser Welt ihren Einfluss in der Region mehr und mehr stärken, und nur wenn wir das sicherstellen können, wenn wir vor allem auch sicherstellen, dass das Projekt der Europäischen Union irgendwann abgeschlossen ist und auch diese Staaten Teil unserer Europäischen Union sind, und auch von unseren Grundwerten und der Entwicklung der Europäischen Union profitieren können.
Neben den nationalen Schwerpunkten, die man setzen kann, während eines Ratsvorsitzes, gibt es natürlich auch Themen auf der Agenda, die wir uns nicht ausgesucht haben. Ich spiele damit auf den Brexit an. Wir alle sind unglücklich darüber, dass Großbritannien die Europäische Union verlassen wird, aber es ist daher umso wichtiger, dass wir das geordnet abwickeln. Es kann kein Rosinenpicken für Großbritannien geben, aber genauso wichtig ist es, dass wir ein geordnetes politisches, aber auch wirtschaftliches Verhältnis mit Großbritannien sicherstellen. Ich bin in diesem Zusammenhang dem Chef-Verhandler der Europäischen Union sehr dankbar für seine Tätigkeit, und wir werden alles tun, um ihn bestmöglich zu unterstützen und die Einigkeit der 27 in dieser Frage sicherzustellen.
Wir wollen die europäische Kommission bestmöglich bei den Verhandlungen für das nächste Europäische Budget, für den mehrjährigen Finanzrahmen, überstützen, auch wenn wir uns bewusst sind, dass die Verhandlungen noch sehr schwierige werden. Wir brauchen hier, glaube ich, einen guten Mix aus Qualität und natürlich auch Timing, denn beides ist für die Stabilität der Europäischen Union entscheidend.
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordneten! Wir sind uns bewusst, dass wir den Ratsvorsitz der europäischen Union in einer herausfordernden Zeit übernehmen dürfen. Wir sind uns bewusst, dass es der letzte vollständige Ratsvorsitz auch vor den Wahlen zum europäischen Parlament sein wird, und wir sind uns bewusst, dass es eine große Arbeit und Anstrengung für uns sein wird. Wir freuen uns trotzdem auf diese Tätigkeit. Wir bitten Sie um bestmögliche Zusammenarbeit und Unterstützung für den österreichischen Ratsvorsitz. Wir sind froh wenn wir in manchen schwierigen Fragen Brückenbauer sein können, im Interesse der Europäerinnen und Europäer, im Interesse unserer Europäischen Union. Vielen Dank!
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